Glossar des urbanen Raums

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Das Urban Research Institute hat in Kooperation mit dem Arbeitskreis für gemeinsame Kulturarbeit bayerischer Städte e.V. bereits im Jahr 2008 das „Glossar des urbanen Raums“ veröffentlicht. Ich weiß gar nicht wie mir diese kleine Broschüre damals zugefallen ist, aber sie wurde in all der Zeit nicht sonderlich weit weg geräumt und ist immer noch schnell zur Hand, wenn es darum geht Begriffe von Ampel und Ausweichen bis zu Zentrum und Zwischenraum zu definieren. Die Texte variieren von humoristischen Ansichten, über erleuchtende Erklärungen bis hin zu subversiven Hanlungsanweisungen. Der öffentliche Raum gehört nun mal uns allen und darf auch so benutzt werden. Dieses Glossar erklärt die vielen Elemente die den öffentlichen Raum ausmachen und auszeichnen und es zeigt auch mehr oder weniger direkt, wie diese Elemente ggf. genutzt werden können, oder wie sie ineinander greifen.

Das Glossar des urbanen Raums gibt es als PDF zum download. Die Broschüre selbst ist schätzungsweise längst vergriffen.

Beispiele aus dem Glossar

Ampel, die:
Vordergründig zur Regelung der Verkehrsströme gedacht und damit zur Wahrung der Verkehrssicherheit, dient die A. eigentlich der Demütigung mündiger Menschen, die aufgrund der von der A. ausgehenden Lichtzeichen zu mitunter sinnfreien Unterbrechungen ihrer Fortbewegung genötigt werden. Die Konditionierung des Verhaltens (instrumentalisiertes Lernen / bedingte Aversion) lässt sich unter der Prämisse eines Glaubens an den freien menschlichen Willen und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen nur schwer verstehen, da das Objekt der Konditionierung auf ein primitives Reiz-Reaktionsschema reduziert wird. Das gilt in besonderem Maße für Fußgänger, die den motorisierten Verkehrsteilnehmern unterlegen sind und sich ob ihrer Schwäche deren Vorherrschaft beugen müssen. Die A. etabliert folglich durch ihre oft niederschmetternd kurzen Grünphasen für Fußgänger eine antidemokratische Hierarchie im öffentlichen Raum.

Brache, die:
eine in erschlossenem Gebiet liegende, sich selbst überlassene Fläche, u.U. mit (Neubau-) Ruinen, Wracks o.ä. in diversen Verfallsstadien. Wird gemeinhin als trostlos empfunden; dient in der Kinematografie manchmal der romantischen Projektion. Die Brache ist ein Areal, das den Pionierpflanzen zur Erstbesiedelung dient.
Handlungsanweisung: Brachen besummen. Versammeln Sie eine Gruppe ansässiger Stadtbewohner. Begeben Sie sich zusammen zur Brachfläche und summen Sie laut, kräftig und vernehmlich. Bitten Sie die Anwohner es Ihnen gleich zu tun, während Sie das Gelände gemeinsam erkunden.

Garten, der:
Mit Sesshaftwerdung des Menschen beginnt die Geschichte der Gärten. Üblicherweise in der Nähe eines Gebäudes gelegen, zu dem er als bewohnter Außenraum gehört; der G. ist i.d.R. durch einen Zaun, eine Mauer oder Hecke abgegrenzt. Er ist in vielen Kulturen Gegenstand des künstlerischen Ausdrucks und erfreut sich mit einer Vielfalt an Formensprachen ungebrochener Beliebtheit. Im städtischen Raum unterscheidet man einen dem Reihenhaus angegliederten Garten (“Handtuch”) vom Schrebergarten, der Teil einer Kolonie ist. Der Schrebergarten muss einem strikten Regelwerk genügen und darf in Deutschland nicht gleichzeitig Wohnort des Schrebergärtners sein. Städte stellen ihren Bürgern eigens angelegte Gärten zum temporären Aufenthalt zur Verfügung. Bei der Pflege werden jedoch aus Kostengründen die gestalterischen Aspekte oft untergeordnet. Ein relativ neues Phänomen ist, dass sich die Stadtbewohner selber um die Pflege und Bepflanzung (sog. Guerilla Gardening) kümmern und die örtlichen Grünflächen in ihre Verantwortung nehmen.
Handlungsanweisung: Suche Sie sich in der Nähe Ihrer Wohnung eine vernachlässigte Grünfläche. Entfernen Sie die alte Bepflanzung. Kaufen Sie Blumenzwiebeln oder Samen Ihrer Wahl und werden Sie zum Gärtner.

Heimat, die: Konstrukt einer emotionalen Bindung i.d.R. zu einem Gebiet, aber auch zu (reellen oder erfundenen) Personen. Heimat ist dort, wo man aufgewachsen oder gespeichert ist; dort, wo man sein kann wie man ist oder so sein kann wie man gerne wäre. Heimat kann eine TV-Serie sein. There’s no place like 127.0.0.1.

Heimatschutz, der:
kurz-, maximal mittelfristig wirksame Maßnahme der Gefahrenabwehr. Langfristig vergebliche Mühe, da irgendwann etwas passiert, wogegen es keinen Schutz gibt (s. Heimat).

Littering, the:
Der englische Begriff beschreibt ein Verhalten, bei dem Abfälle auf Straßen und Plätze geworfen oder dort achtlos liegen gelassen werden. Bedeutende Mittel werden von Städten für die Reinigung und Beseitigung der Abfälle aufgewendet, um die bürgerliche Vorstellung von Lebensqualität im öffentlichen Raum, die mit Sauberkeit und Sicherheit verbunden ist, zu erfüllen. Man kann Littering sogar als einen kleinen Akt von nonkonformistischem bzw. subversivem Verhalten deuten. Außerdem ist wie beim Phänomen der Broken Windows festzustellen, dass deutlich weniger Hemmungen bestehen, Abfall an Orten liegen zu lassen, wo andere bereits das Gleiche getan haben. Formen künstlerischen Litterings: z.B. HA Schult.

Nachbar, der:
In gewisser oder unmittelbarer Nähe, im selben Haus, oder Haus an Haus lebende Menschen bezeichnet man als Nachbarn. Oft Quelle von Ärger, Frust, Aggression; Gefühl der Überwachung der eigenen Lebensgewohnheiten durch Nebenan. Unfreiwillige Spiegelung. Es gibt aber auch Fügungen, die das Gegenteil beweisen: Exzessive gemeinsame Grillaktivitäten mit viel Rotwein im Hinterhof oder im Garten eines Nachbarn.

Ort, der:
ein durch die Sinnesorgane hergestelltes Konstrukt, das Orientierung ermöglichen soll; eine Stelle, die definiert ist durch geographische Daten; Koordinaten. Der O. ist nur vermeintlich statisch und unterliegt tatsächlich einem permanenten Wandel durch seine Nutzung, die Zeit und die damit verbundene historische und energetische Aufladung bzw. Polung.

Parken, das:
temporäre Nichtbenutzung eines Vehikels (Automobil, Fahrrad, Leib). Das P. dient nicht rein pragmatischen Zwecken, sondern auch der Markierung von Reviergrenzen oder dem Zurschaustellen des geparkten Vehikels und damit der Unterstreichung der eigenen sozialen Stellung.

Reklametafel, die:
ein i.d.R. von Unternehmen genutztes Medium der (meist einseitigen) Kommunikation zum Zwecke der pekuniären Bereicherung. Die R. hat die von der Ikone hinterlassene Leerstelle besetzt, seit die Werbung sich zunehmend auf ideelle Werte konzentriert und mit dem Anpreisen eines Produkts eine Handlungsanweisung (“feel free”) verknüpft. Die Allgegenwart der R. stellt in den Augen mancher Kulturwissenschaftler eine optische Körperverletzung dar.

Überwachung, die:
Beobachtung menschl. und technischer Aktivität im Handlungsraum (Videoüberwachung im Straßenverkehr, Messwerte auf Armaturen, Thermometer usw.). Die Ü. ist Ausdruck und Mittel des Bedürfnisses nach Kontrolle und Ordnung. Für eine möglichst umfassende Ü. wird meist als Argument angeführt, dass Ü. an sich bereits zu einer stärkeren Ordnung im überwachten System führt (Abschreckung von Gewaltverbrechern und Terroristen). Es muss bezweifelt werden, ob Ü. an sich Unordnung bereits verringert. Womöglich fördert sie diese sogar. (Großbritannien verfügt z.B. über das weltweit fortschrittlichste Videoü.snetz. Gleichzeitig hält das Land den Rekord an exzessiven Gewaltverbrechen, was sowohl die Häufigkeit, als auch den Grad an Brutalität angeht.) Dennoch verändert die Aktivität der Ü. an sich faktisch bereits eine überwachte Aktivität (Unschärferelation). Beispielsweise verändert die Videoü. sympathische und herausragende Handlungsschemata wie Empathiefähigkeit, Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe, da das Helfen in Notsituationen im Ü.sfall u.U. als Aufgabe der die Ü. betreibenden Organe betrachtet wird. Ü. dient primär dem Interesse des Überwachenden (sowohl bei Ü. des öffentlichen Raums als auch bei Ü. des privaten Raums wie z.B. in Shopping Malls).

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Alle 124 Beiträge können in der PDF-Datei nachgelesen werden. Das Werk steht dankenswerterweise unter einer Creative Commons Lizenz.

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