Bis in die 1990er Jahre bauten die Russen hier auf der norwegisch verwalteten Insel Spitzbergen sehr hochwertige Kohle ab. Heute ist die Bergarbeitersiedlung Pyramiden eine Geisterstadt. Aber eine mit einem funktionierenden Hotel, in dem man es sich gemütlich machen kann. Das hilft ungemein bei unserem Aufenthalt inmitten von Ruinen, Geschichten und arktischer Weite.
Es ist Sommer. Von Longyearbyen aus dauert die Schiffsreise nach Pyramiden etwa vier Stunden. Schon die Fahrt ist ein Erlebnis. Es geht entlang vieler karger arktischer Fjorde und fauler Walrösser, bis man schließlich auf einen Schrotthafen stößt: Pyramiden, benannt nach dem angrenzenden pyramidenförmigen Berg, aus dem die Kohle gefördert wurde. Auf dem alles überragenden Hang begrüßt ein riesiger kyrillischer Schriftzug aus verwitterten Holzlatten die Gäste: „Mиру Мир!“, übersetzt: „Frieden für die Welt“. Ein Slogan, dem man auch an anderen Orten auf Spitzbergen begegnet. Seit dem Ukrainekrieg steht hier nun auch PEACE direkt darunter. Offenbar ist man in Erklärungsnot geraten.
Mit einem klapprigen Bus geht es vom Hafen in den Sozialismus. Er hält vor einem vierstöckigen, schmutzig-gelben Gebäude, dem Hotel Tulpan, dem nördlichsten Hotel der Welt. Seit 2013 ist es wieder in Betrieb und auch weitere Infrastruktur wurde ausgebaut, unter anderem gibt es ein neues Kraftwerk mit Dieselgeneratoren, um die alte Siedlung mit Energie zu versorgen. Es gibt noch ein, zwei kleine Wohngebäude und die Werkstatt, die vom Personal bzw. den gut zwanzig derzeit hier lebenden Menschen genutzt werden. Der große, weitläufige Rest verfällt und ist in der sowjetischen Vergangenheit geblieben.
Der Ort heißt im Original Пирамида, Piramida, und ist tatsächlich immer noch russisch. Er gehört dem Moskauer Staatsunternehmen Arktikugol, das neben Bergbau den Tourismus für sich entdeckt hat. Um den kümmert sich die Arctic Travel Company Grumant, die zu Arktikugol gehört. Vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine soll die Hütte auch voller Touristen gewesen sein. Seitdem hat sich die Welt auch an diesem abgelegenen Ort verändert. Statt ganzer Schiffsladungen von Kreuzfahrern kommen nur noch vereinzelt Abenteurer und Tagesgäste nach Pyramiden. Auch wenn die Sanktionen gegen Russland hier außerhalb des russischen Staatsgebietes nur bedingt greifen, boykottieren manche Reiseanbieter die Zusammenarbeit.
Der normale Tourist spaziert zwei, drei Stunden durch die verlassene Bergbausiedlung und schippert danach gleich zurück. Wir bleiben vier Tage, um den morbiden Charme dieser Mutter aller Lost Places abzulichten. In der arktischen Einöde ist vieles besser erhalten als sonst bei verlassenen Gebäuden. Die Fenster sind nicht eingeschlagen, die Türen nicht kaum eingetreten, es gibt keine Graffiti. Einige ausgewählte Gebäude sind sauber gefegt und (leider) auch etwas hergerichtet. Viele Räume sind mit sowjetischen Relikten und Propaganda dekoriert. Die Kantine zum Beispiel, die Schule und auch das Kulturhaus, in dem sich jetzt ein Café befindet. Der Tourismus formt auch diesen Ort. Aber andere Bauwerke zeigen schonungslos ihren jahrzehntelangen Verfall. Beispielsweise die ganzen Bergbauanlagen, die Wohnungen der Arbeiter, das Krankenhaus und einiges mehr. Manches wurde gar durch Sprengung zerstört. Doch es hält sich insgesamt der Eindruck, als wenn die Siedlung erst vor Kurzem verlassen wurde. Als wenn jede Minute ein Parteisekretär für eine Inspektion zurückkommen könnte.
Eine UdSSR im Kleinen
Doch was hatte die UdSSR hier – auf norwegischem Territorium – zu suchen? Spitzbergen war bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine staatenlose Inselgruppe, auf der Walfänger, Bärenjäger und Bergwerksbesitzer verschiedener Nationen das Sagen hatten. Mit dem Spitzbergenvertrag von 1920 erhielt Norwegen die Souveränität über die Polarinseln, andere Länder durften aber weiterhin Bodenschätze abbauen, was am Ende aber kaum noch jemanden interessiert hat. Pyramiden wurde bereits 1910 von Schweden gegründet und 1927 an die Sowjetunion verkauft. 1941 wurde der Ort als kriegsbedingte Vorsichtsmaßnahme evakuiert, blieb jedoch im Wesentlichen unzerstört. Nach dem Krieg wurde Pyramiden die wichtigste und größte Kohleabbausiedlung der sowjetischen Regierung in der Arktis. Es entstand eine UdSSR im Kleinen. Bis zu tausend russische und vor allem ukrainische Bergleute aus dem Donbass waren hier im Einsatz. Ob Kindergarten, Kraftwerk, Krankenhaus, Viehställe oder Friedhof – nichts fehlte dem autarken Pyramiden. Die Bewohner trotzten auch dem dunklen, und sehr kalten arktischen Winter. So konnten die Sowjets selbst im NATO-Land Norwegen Präsenz zeigen. Die Kohleförderung war aber gemessen am Weltmarktpreis hier immer relativ teuer und damit unwirtschaftlich.
1996 stürzte ein Charterflug für Arktikugol beim Landeanflug auf den Flughafen von Longyearbyen ab und kostete 141 Menschenleben. Zwei Jahre später, 1998, wurde Pyramiden auch Aufgrund des Unfalls, geschlossen und als Bergbausiedlung aufgegeben.
Arktische Wildnis trifft auf Industrielandschaft
Unentwegt kreischen Tausende von Möwen, die in den Fensternischen des gegenüberliegenden Hauses nisten. In der Ferne schlägt ein loses Blech gegen Metall. Oder war es ein Eisbär? Über allem wacht Lenin, sein oft fotografierter roter Granitkopf blickt von einem Sockel auf die Geisterstadt herab. Es ist die nördlichste Lenin-Statue der Welt. Im Gegensatz zu vielen Orten im ehemaligen Ostblock wurde die Büste des Gründers der Sowjetunion nicht entfernt. Ohne bewaffnete Begleitung geht auch in Pyramiden, wie auf ganz Spitzbergen, nichts. Einem hungrigen Eisbären will man nicht unbewaffnet begegnen. Unsere Guides sind junge Russen. Ende zwanzig vielleicht, die hier ein vergleichsweise unbehelligtes Leben führen können. Einer von ihnen, Igor, spricht fließend Deutsch. Auch eine sehr lebhafte junge Frau begleitet uns. Vom Typ her Snowboardlehrerin. Warum sie hier sind, bleibt etwas unklar. Es gibt diesen Typ Mensch, den es in die Einöde zieht. An solchen Orten treffen sie sich und machen das Beste daraus. Später erfahren wir, dass unsere beiden männlichen Guides Post bekommen haben und zum Dienst an der Waffe für den Krieg in der Ukraine einberufen wurden. Auch hier, am Ende der Welt, ist die Weltpolitik ganz nah. Und es gibt dabei noch nicht einmal Mobilfunk oder WLAN für die Gäste, also auch keine Nachrichten.
Alles in Pyramiden steht auf Stelzen. Jedes Haus, und auch der „Broadway“. Diese großen Versorgungsleitungen durchziehen die ganze Siedlung und dienen auch heute noch dazu, einigermaßen an Geröll und Schmelzwasser vorbei zu kommen. Im Winter bot dies den Vorteil, dass die Heizungsrohre die Stege schnee- und eisfrei hielten. Der alte Spielplatz mit seinem vielen Schaukeln steht wie gerade erst verlassen, was der Szenerie eine spürbare Melancholie verleiht. Ganze Familien haben hier über Jahre gearbeitet und gelebt. Es ist nicht nur die menschliche Geschichte, die Pyramiden faszinierend macht. Eingebettet zwischen schroffen Bergen und mit Blick auf den prächtigen, unaufhaltsam schmelzenden Nordenskiöld-Gletscher, bietet der Ort atemberaubende Landschaften. Die Kombination aus industriellen Strukturen und der unberührten arktischen Natur ergibt einzigartige fotografische Motive, besonders im diffusen Licht der Mitternachtssonne.
Es ist möglich, den Gipfel von Pyramiden zu ersteigen. Der Berg ist 970 Meter hoch. Der Weg dorthin ist allerdings nur etwas für geübte Wanderer und nichts für Normaltouristen. Bis zur halben Höhe ist der Aufstieg etwas ungefährlicher und auch hier lohnt sich die Mühe schon mit grandiosen Ausblicken in die Weite der Arktis. Überall am Berg finden sich Spuren des Bergbaus. Stollen, Baumaterial, jede Menge Metall und Holz. Verlassen und zurückgelassen.
Westlich der Siedlung liegen mehrere Seen, die ursprünglich die Wasserversorgung sicherstellten. Neben dem Gefühl, zu einer kleinen Gruppe von nur vielleicht ein paar hundert Menschen zu gehören, die sich gleichzeitig so weit im Norden der Erde fernab von Zivilisation aufhalten, kann man hier auch die futuristisch anmutenden Überreste einer Konstruktion entdecken, die den Permafrost im Boden konserviert hat.
Pyramiden ist eine einzigartige Erfahrung und zweifellos ein Abenteuer. Es ist ein Ort, der die Schönheit und Wildheit der Arktis mit den Spuren menschlicher Geschichte und Kultur verbindet. Es ist ein Beweis für die Hartnäckigkeit und Anpassungsfähigkeit des menschlichen Lebens, selbst in den unwirtlichsten Umgebungen. Ein Paradies für Fotografen, Abenteurer und Geschichtsliebhaber. Bereits 2015 war Jonathan Kielkowski in Pyramiden. Aus seinen Eindrücken ist nicht nur ein Buch, sondern auch ein stimmungsvolles Video geworden. Beides gibt es hier. Wer Kamera und Entdeckergeist griffbereit hat und Lust auf diese Tour verspürt, wendet sich am besten mit vielen Grüßen an Martin Kaule.
Pyramiden findet man hoch im Norden bei 78° 39′ 18″ N, 16° 20′ 15″ E oder bei Google Maps.
Viele weitere Eindrücke finden sich auf den beiden folgenden Seiten.