Bei meinem letzten Istanbul-Besuch kam ich nicht umhin, einen mir bis dahin unbekannten Stadtteil zu besuchen. Zwar kenne ich Taksim (bzw. Beyoğlu) ein bisschen, aber auf die Idee den Tarlabasi Boulevard in Richtung Norden zu überqueren, bin ich nie gekommen. Erst ein Bericht in dem Videoblog „Orient Express“ machte mich auf Tarlabaşı aufmerksam. Ein Stadtteil für Arme, Flüchtlinge oder Randständige (insbesondere Kurden) im Zentrum Istanbuls, dem eine komplette Aufwertung und Umgestaltung bevorsteht. Investoren haben offenbar die Lage und den Wert des Viertels erkannt und bereits große Werbetafeln aufgestellt die nicht nur zeigen, wie das Quartier mal aussehen soll, sondern auch den Blick auf die ramponierten Häuser versperren.
Beyoğlu ist quasi das Zentrum des modernen Istanbuls und zeichnet sich durch sehr geschäftige und lebendige Straßen aus. Insbesondere in den Nebenstraßen und Gässchen steppt nachts der Bär. Es gibt unzählige sehr volle (musikalisch allerdings tendenziell einfältige) Bars und Clubs und viele hübsche Menschen der betuchten Mittelschicht. Die İstiklal Caddesi ist eine funkelnde Einkaufsmeile par Excellence, in der man schnell vergisst, bzw. nicht mal ahnt, dass nur wenige hundert Meter weiter, getrennt durch eine große, stark befahrene Straße, sich ein komplett anderes Bild bietet. Keine funkelnden Läden mehr, keine Bars, keine gestylten Menschen. Dafür viele alte Häuser, oftmals ramponiert und eingestürzt. Es müffelt in den Straßen, Müll liegt rum. Als Fremder ist man schnell enttarnt, denn Touristen sichtet man nicht in den Straßen.
Wir trafen uns mit Sila, einer türkischen Freundin aus Istanbul. Sie kannte Tarlabaşı selbst auch nicht und war auch neugierig auf die Erkundung und wir wollten nicht ohne eine Dolmetscherin nach Tarlabaşı. Auf dem Weg zu unserem Treffpunkt am Taksim Sqare wurde sie vom Taxifahrer vor dem Besuch des Viertels gewarnt. Es sei viel zu gefährlich. Gut, wir schnallten die Rucksäcke nach vorne, kontrollierten die Reisverschlüsse und gingen vorbei an Prostituierten in die ersten nach Urin riechenden Straßen.
Die ersten Fotos entstanden dann auch etwas heimlich und zögerlich, aber nach den ersten Begegnungen mit den Einheimischen legte sich die Mulmigkeit. Eine sehr offenherzige und redegewandte Türkin dabei zu haben erwies sich als Glücksgriff. Wir wurden angesprochen und Sila ging souverän mit den Leuten um. Zwar erinnerte sie uns öfter doch auf unsere Taschen zu achten, aber zugleich wurden wir beim Fotografieren von Kindern umtanzt und auf Gebäude aufmerksam gemacht und manche posierten auch für uns.
Ein spannender Fotowalk und vielleicht Fotos, die es so in Tarlabaşı bald nicht mehr geben wird. Die ersten Häuser sind schon saniert und warten auf neue Bewohner. Die bisherigen werden sich diese Wohnungen in ihrem Viertel bald nicht leisten können. Ob dann noch Mädchen mit Luftballons auf Balkons für Fotos posieren werden, wage ich zu bezweifeln.