
In der Urban Exploration Szene, bzw. in entsprechenden Communities im Netz, ist es gerne mal untersagt den genauen Ort von Objekten preis zu geben. Man fürchtet Vandalismus oder Tourismus. Die besten Objekte sind die unberührten und unentdeckten. Schöner Gedanke, aber etwas arrogant und außerdem sind meiner Wahrnehmung nach die tollen Objekte mehr durch Investoren bedroht als durch alles andere. Wie dem auch sei. Ein großes Geheimnis verrate ich nicht, wenn ich hier auf ein kleines Dorf bei Lehesten im Thüringer Wald hinweise. Dieses Dorf ist bei den UrbExern, sowie auch bei den Geocachern (wobei es da eine große Schnittmenge geben dürfte) längst bekannt und an Wochenenden ist wohl auch genug Personal aus diesen Lagern vor Ort. Mit diesem Wissen bin ich dann extra unter der Woche, an einem Mittwoch, auf einen Besuch und eine kleine Wanderung dort vorbei gefahren. Es war zwar schön ruhig, der einzige Besucher war ich aber trotzdem nicht.
Das Dorf liegt direkt an einem alten Schiefersteinbruch, der nach seinem Besitzer genannte Oertelsbruch. Wir haben hier eine Ansammlung recht vieler verlassener, teilweise großer und schöner Häuser. Hübsch gelegen, teilweise mitten im Wald oder an Kuhweiden und Wiesen angrenzend. Alles sieht aus, als würde es schon seit Jahrzehnten leer stehen und nichts ist in einem brauch- oder gar bewohnbaren Zustand. An manchen Ecken zerrt ein Geruch nach Asche und Steinbruch am Geruchsorgan. Es gibt Häuser, die komplett zusammengefallen oder abgebrannt sind. Verfall kann sehr schnell gehen.
Ich hatte mich im Vorfeld etwas über den Ort informiert und mit diesen Infos begann ich dann den Entdeckungsspaziergang:
Der Schieferabbau in Lehesten wurde erstmals 1485 erwähnt. Ab dem 18. Jahrhundert wird der Abbau intensiviert und eine Vielzahl kleinere Brüche entstehen. Zur Hochzeit zwischen 1850 und 1890 sind in der gesamten Region rund 2.500 Bergleute in über 40 Brüchen mit dem Abbau von Dachschiefern beschäftigt.
Die Unternehmerfamilie Oertel erwarb 1850 einige Brüche bei Schmiedebach. Aufgrund der Innovationskraft und des Tatendrangs von Karl Oertel entwickelte sich das Familienunternehmen mit 860 Beschäftigten zum größten thüringischen Arbeitgeber. Der heute als Oertelsbruch bekannte Bruch ist ein Zusammenschluss vieler einzelner Brüche, die Oertel über die Jahre erworben hatte. Die Lehestener Tagebaue (wozu der Oertelsbruch und der Staatsbruch zählen) gelten bis heute als die umfangreichsten Schiefertagebaue des europäischen Festlands.
– Geocouch

Der Zugang zu den Gebäuden wird weniger durch Türen oder Sperren erschwert, als durch umherliegende Trümmer. So richtig stabil sieht hier nichts mehr aus. Einige Gebäude wirken so solide wie Kartenhäuser und der Gang in höhere Etagen gleicht schon einer Mutprobe. Die Holzböden sind weich und morsch und in einigen Ecken lassen sich durch den Boden die unteren Etagen erkennen. Auch wurde oftmals nicht sonderlich sorgfältig gearbeitet, als unter Putz verlegte Kabel entfernt wurden. Kupferdiebstahl scheint lukrativ zu sein und auch sonst ist kaum was zu entdecken, was auch nur irgendwas an Wert hätte. In einer Ecke wurde ein Aktenschrank zertrümmert und der Inhalt im Zimmer verteilt. Dokumente und Zeitungen sind auf die frühen 90er datiert. Und so sieht es fast immer aus, wenn Vandalismus und Profitgier über Leerstand herfallen: Es wird ohne Rücksicht zertrümmert und demontiert. Die Verschwiegenheit von UrbExern über entdeckte Objekte ist somit verständlich: „Take nothing but pictures, leave nothing but footprints“ schallt es gerne mal durch die Szene.
Es sieht so aus, als hätte dieses Dorf nach der Wende nicht mehr lange gelebt, auch wenn so mache Quelle berichtet, dass im Steinbruch noch bis 2009 gearbeitet wurde. Schwer zu glauben, dass die Gebäude des Dorfs nicht schon viel länger leer stehen.
Aber nicht nur Vandalen, Kupferdiebe und Fotografen tummeln sich an solchen Orten, auch Sprayer zieht es wie selbstverständlich in alte Industriegemäuer wie diese. Das Dorf am Oertelsbruch hat leider eine nicht zu übersehende Sammlung an infantilen Graffitis, die sich auch unter Vandalismus verbuchen lassen und oftmals im Versuchsstadium hängen geblieben sind. Aber einige gute Arbeiten sind auch dabei, nicht unbedingt immer an leicht erreichbaren Stellen, etwas Kletterei ist schon nötig um an die ein oder andere künstlerisch wertvollere Arbeit zu kommen, was natürlich die Entdeckerseele streichelt. Ein Foto eines Graffitis an einer Wall of Fame irgendwo in der Innenstadt kann jeder machen. Graffitis in einem muffigen Loch in einem fast zusammengefallenem Gebäude gemacht wurden, haben sicherlich nur wenige Menschen überhaupt im Original gesehen. Umso großartiger, wenn es sich um eine gute Arbeit handelt. Es ist zu spüren, wie es hier nicht um Exposition geht, sondern einfach um die pure Existenz eines Werkes an genau diesem Ort.

Der Streifzug geht weiter:
Im Jahre 1903 stirbt Karl Oertel. Die darauffolgenden Jahrzehnte stehen im krassen Gegensatz zur einstigen Blütezeit des 19. Jahrhunderts. Im ersten Weltkrieg und während der Hyperinflation der 1920er Jahre kommt der Schieferbergbau nahezu zum Erliegen. Das Ende des Abbaus und der Weiterverarbeitung stellte allerdings die Beschlagnahmung des Oertelsbruchs durch die SS und die Errichtung des KZ-Außenkommandos “Laura” im Jahre 1943 dar.
– Geocouch
Der Oertelsbruch ist nicht der einzige geschichtsträchtige Ort. Es grenzt neben dem Dorf auch die KZ-Gedenkstätte Laura an den Steinbruch an, die über die vielen Zwangsarbeiter im Steinbruch und über die ausgedehnten Stollen zu berichten weiß. Man hielt die Stollen damals für Bombensicher und so wurden dort u.a. Testanlagen für Raketentriebwerke installiert. Eine interessante Geschichte, die sich offenbar auch erleben lässt, wenn man möchte. Es gibt Gruppierungen, die sich tief in die Stollen vorwagen, Leuten ohne Ausrüstung, wie ich an diesem Tage, ist ein solches Unterfangen allerdings nicht zu empfehlen, und schon gar nicht, wenn man alleine unterwegs ist. Aber vielleicht beim nächsten Mal.
Fotos vom verlassenen Dorf am Oertelsbruch


































