Tiraspol: Ein Blick in ein vergessenes Europa

Das Referendum zum EU-Beitritt in Moldawien ist gelaufen und das Ergebnis ist so knapp wie nur möglich ausgegangen. Die Moldauer haben sich mit hauchdünnem Vorsprung für den EU-Beitritt entschieden. Gratulation an dieser Stelle, dass es trotz der offensichtlichen russischen Einflussnahme geklappt hat. Moldawien ist ein geteiltes Land. Wie Korea oder Zypern oder vor nicht allzu langer Zeit Deutschland hat Moldawien eine Grenze mit Passkontrollen zwischen den Außengrenzen. Im Osten Moldawiens, als schmaler Puffer zur Ukraine, liegt die abtrünnige Region Transnistrien mit der Hauptstadt Tiraspol. Von denjenigen, die dort gewählt haben, haben sich 37 % für die EU entschieden.

Fährt man von Chişinău nach Tiraspol, dann ist das eine Reise vom Westen in den Osten – nicht nur geografisch, sondern auch kulturell. Der Verkehr nimmt ab, die Straßen werden noch schlechter und dann tauchen bewaffnete Soldaten auf. Auch ein kleiner Schützenpanzer steht hinter einem Tarnnetz. Es ist ein Grenzübergang, der den Verkehr aufhält. Hier warten auch LKWs und Busse. Aber die Schlange ist kurz. Fotografieren sollte man jetzt besser nicht und es traut sich auch niemand. Passkontrolle, routinierter Blick eines Soldaten ins Auto und in unsere Gesichter. Mein letzter Gedanke an die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes für Transnistrien. Man soll da nicht so einfach mir nichts, dir nichts einreisen. In dem international nicht anerkannten, von Russland gestützten De-facto-Regime gibt es keine Botschaft oder sonstige ständige Vertretung eines Landes. Wenn man also dort umfällt und liegen bleibt oder den auf Thermopapier gedruckten Einreisebeleg verliert, der einem bei der Passkontrolle anstelle eines Stempels im Pass ausgehändigt wird, dann holt einen dort so schnell keiner mehr raus. Die Einreise geht dann doch schneller und weniger dramatisch als gedacht, aber es ist doch ungewohnt, an einer Grenze so kontrolliert zu werden, vor allem, wenn man das Land gar nicht verlässt.

Nach dem Grenzübertritt wird klar, dass man nirgends eingereist ist, sondern zurückversetzt wurde, in eine Zeit, als die Sowjetunion noch existierte. So nochmal anders sind auf einmal die Häuser, die Autos und Busse, die Kleidung der Leute, das Zwitschern der Vögel. Erinnerungen werden wach von Reisen in den späten 80ern von Westdeutschland nach Brandenburg, damals die DDR. Selbes Land, zwei unterschiedliche Regime, zwei gegensätzliche Welten. So auch hier. Kurz nach der Grenze muss erstmal Geld getauscht werden. Transnistrien hat eine eigene Währung, den Transnistrischen Rubel. Kurs etwa 1:20. Man tauscht bei der Einreise 40-50 Euro gegen Monopolygeld Bargeld. Man kann zwar theoretisch überall mit Karte bezahlen oder Geld abheben, aber westliche Banken und Geldkarten funktionieren nicht. Das Land ist vom westlichen Geldsystem abgeschnitten.

Tiraspol macht kein Geheimnis daraus, in welche Richtung man sich orientiert. Lenin ist in seiner ikonischen Form im Stadtbild allgegenwärtig. Es gibt Statuen in allen Größen und Formen, mit allen seiner Posen und dem einen Gesichtsausdruck in der Stadt, auf Plätzen, in Schaufenstern, in Restaurants, im Spätsommerwind. Über allem wacht der Übervater der Sowjetunion. Weitere Denkmäler erinnern an Katharina die Große und mit einem Panzer an den Zweiten Weltkrieg. Etwas abseits erinnert eine Tafel an Tschernobyl. Zudem ist die Dichte von Ladas und anderen „ostigen“ Autos sichtbar höher. Aber es gibt auch viele westliche Fahrzeuge, wenn auch nicht die allerneusten, wie sie in Chișinău unterwegs sind. Vor dem riesigen Lenin-Denkmal stand ein Tesla, allerdings mit einem Kennzeichen aus Moldawien. Offenbar war der wie wir auch nur zu Besuch.

Rumstrolchen in Tiraspol

Wir hatten nicht ganz so viel Zeit für eine kleine Fototour wie in Chişinău, aber immerhin konnten wir uns einen Vormittag lang ohne Guide frei bewegen. Tiraspol ist ruhig und entspannt. Wenig Verkehr, gemächlich schlendernde Passanten, hier und da fegt jemand den Bürgersteig in diesem kommunistischen Freilichtmuseum, ein anderer sitzt da und schaut zu. Viele sind unterwegs, um alltägliche Besorgungen zu erledigen. Es sieht so aus, als ob alles seine Ordnung hätte. Wenn man die aktuellen geopolitischen Spannungen ein wenig ausblendet, und das geht wirklich schnell und einfach, findet man sich in einer friedlichen und sehr nostalgischen Stadt mit ihren freundlichen und knuffigen Bewohnern wieder. Echte Kontakte zu Einheimischen hielten sich zwar wegen der Sprachbarriere in sehr engen Grenzen, aber mit etwas Schulrussisch, wilden Gesten und einem Lächeln kann man schon mal ein Eis oder einen Cappuccino bestellen.

Die Stadt ist ein Biotop, eine Zeitkapsel. Hier kann man fast ungestört beobachten, wie es früher im Osten war. Wie merkwürdig abgeschnitten man vom Rest der Welt sein kann. Keine Nachrichten, keine Börsenkurse, keine global geprägten großformatigen Auto- oder Lifestyle-Wünsche prägen das Stadtbild. Man ist hier unter sich. Es gibt Reisebüros, die mit Flugzeugen werben. Das ist interessant, denn wer nur einen transnistrischen Pass hat, kann sich nur im eigenen Land bewegen. Transnistrische Papiere werden international nicht als gültige Reisedokumente anerkannt, nicht einmal von Russland. Mit einem transnistrischen Pass ist man auf einer Fläche eingesperrt, die nicht viel größer ist als das Saarland. Einreise nach Moldawien ist zwar möglich, denn zu dem gehört Transnistrien völkerrechtlich, aber weiter kommt man dann auch nicht. Daher haben viele Transnistrier zusätzlich einen moldawischen Pass, mit dem man auch in die EU kommt. Jedenfalls für den Moment.

Liste der Dinge, die auffallen

  • Während in Chişinău unzählige Hunde frei herumlaufen, sind es in Tiraspol vor allem Katzen.
  • Auch hier hat jeder ein Handy und es wird exzessiv genutzt. Mobilfunk ist gut, aber wenn man die Stadt verlässt, ist man schnell offline.
  • Außer Coca Cola, Mars und Snickers findet man in den Supermärkten keine westlichen Marken. Dafür Kaviar in allen Preisklassen.
  • Die Supermarktkette des Landes heißt Sheriff und ja, das Logo ist ein Sheriff-Stern. Sheriff besitzt aber auch eine Tankstellenkette, einen Fernsehsender, ein Verlagshaus, eine Wohnungsbaugesellschaft, den einzigen Mobilfunkbetreiber, den Fußball-Verein und einiges mehr.
  • Sticker oder Graffiti gibt es hier bis auf wenige Ausnahmen nicht. Wenn es Graffiti gibt, dann sind sie auch ästhetisch aus den 80er Jahren.
  • Es gibt Restaurants wie beispielsweise die „Sowjetische Kantine“ oder das Restaurant „Back in the USSR„, beide sehr nostalgisch, aber nicht original, sondern lassen die Zeit für Gäste und Touristen wieder aufleben. Das Essen ist gut und sehr preiswert.
  • Als Abwechslung zum allgegenwärtigen Lenin gibt es ein Harry-Potter-Denkmal. Warum, weiß jetzt aber niemand. Die Statue kann als Versuch interpretiert werden, Modernität und globale Kultur in einer Region zu demonstrieren, die isoliert in der Vergangenheit steckt.
  • Es gibt ein kurioses Wodka-Museum in Form einer Wodka-Flasche mit der größten Sammlung originalverschlossener alkoholischer Getränke aus aller Welt und dem Weltraum, die man sich vorstellen kann.
  • In Moldawien kann man den Transnistrischen Rubel nicht zurück in Euro tauschen. Kaufen kann man davon auch nix. Die Scheine und Münzen sind Monopolygeld wertlos außerhalb Transnistriens.
  • KVINT ist eine riesige Wein- und Congnac-Destillerie. Lustig, denn wenn Congnac nicht aus Frankreich kommt, sollte Congnac eigentlich nicht Congnac heißen. Aber manchmal hat es wohl auch Vorteile, sowas in einem isolierten De-facto-Regime zu betreiben. KVINT gehört natürlich auch zu Sheriff. Und das Zeug schmeckt leider ziemlich gut. Für euch getestet.
  • Soweit ich mitbekommen habe, tritt die Republik Moldau ohne Transnistrien in die EU ein, lässt sich aber die Option offen, es innerhalb der moldawischen Grenzen zu integrieren, wenn der Konflikt gelöst ist. Transnistrien ist noch ärmer als Moldawien und kann sich nicht selbst mit Energie versorgen. Es ist auf die Ukraine und Moldawien angewiesen, die aber keine Lust haben, Transnistrien weiter zu unterstützen.

Reisetipps für Moldawien

Wer sich für das Land interessiert, findet hier auf Reddit eine gute Liste der spannendsten Orte, die – anders als meine Fotos vermuten lassen – auch touristisch und kulinarisch sehr interessant sind. Oder ihr macht es wie wir und bucht euch die Tour bei Martin Kaule.

Außerdem…

Auch hier wieder nur Handyfotos. Die große Kamera war zwar im Koffer dabei, ist aber nach einem Software-Update gleich am ersten Tag ausgefallen.

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